Wie gerufen

Anfang der Siebziger vor einem Mehrfamilienhaus mitten in der Kurpfalz.
Ein Junge ruft aus dem Fenster seinen kleinen Bruder ins Haus: „Alla kumm roi!“
Der versteht das und folgt doch erst nach weiteren Aufforderungen.
Wer das nicht verstehen sollte – es bedeutet so viel wie „Los jetzt, komm herein!“
„Alla“ ist dabei die kurpfälzische Version des französischen „Allez“, die dem Kurpfälzer so selbstverständlich und regelmäßig aus der Kehle kommt wie die Atemluft. Wer etwa zum Aufbruch aufgefordert wird, hört ein „Alla hopp!“, äußert zum Einverständnis ein „Alla gut“ und sagt zum Abschied „Alla dann“.
Dem kleinen norddeutschen Zuwanderer, der damals Ohrenzeuge des „Alla kumm roi!“ wurde, war dies alles fremd. Er ging zu seiner norddeutschen Mama und berichtete, der Nachbarsjunge hieße Allah. Doch, der Bruder hätte ihn mehrfach so gerufen.
Vierzig Jahre später ist die Mehrheit in dem Haus islamischen Glaubens. So hat der kleine Norddeutsche in gewisser Weise doch noch Recht bekommen. Allah jedenfalls scheint den Ruf verstanden zu haben. Allerdings scheint er eine noch viel längere Reaktionszeit gehabt zu haben als der kleine Bruder.
Doch vor dem Herrn sind bekanntlich tausend Jahre wie ein Tag. Und wenn man  die fünfzehn Minuten, die der kleine Bruder vielleicht brauchte, dem Ruf ins Haus zu folgen, in fünfzehn Minuten Allah-Zeit umrechnet, kommt man auf etwa zehn Menschenjahre. Und siehe, das ergibt tatsächlich auch die Zeitspanne, nach der die ersten Muslime in das Haus zogen.
Und deren Kindeskinder halten die eingeborenen „Alla!“-Rufer heute vielleicht für kleine Muezzins.