Multitasking, ein Schlag ins Wasser

Lesen, Kind hüten und dabei noch ausparken?
Auch wenn es viele versuchen, es kann nicht gut gehen. Meinte schon Goethe:

„Sie springt in den Kahn, ergreift das Ruder und stößt ab.
Sie muss Gewalt brauchen, sie wiederholt den Stoß, der Kahn schwankt und gleitet eine Strecke seewärts. Auf dem linken Arme das Kind, in der linken Hand das Buch, in der rechten das Ruder, schwankt auch sie und fällt in den Kahn.
Das Ruder entfährt ihr nach der einen Seite und, wie sie sich erhalten will, Kind und Buch nach der andern, alles ins Wasser.
Sie ergreift noch des Kindes Gewand; aber ihre unbequeme Lage hindert sie selbst am Aufstehen.
Die freie rechte Hand ist nicht hinreichend sich umzuwenden, sich aufzurichten; endlich zieht sie das Kind aus dem Wasser, aber seine Augen sind geschlossen, es hat aufgehört zu atmen.“
Goethe, Wahlverwandtschaften

Achtzehnhundertunderfroren

Dauerregen, Sturzbäche, Überschwemmungen. Kein schöner Sommer in im Jahr 2016. Genau zweihundert Jahre früher hätte man für eine solche Saison Dankesgebete gen Himmel geschickt.

Im Jahr 1816 gab es in Nordamerika und Europa starke Schneefälle in allen Sommermonaten. In New York fielen erfrorene Vögel von den Bäumen. Im Juni. „Eighteenhundred and frozen to death“ nannte man das Jahr in Amerika, „Achtzehnhundertunderfroren“ in Deutschland. Zur Kälte kamen Hagel, schwere Regenfälle, katastrophale Überschwemmungen. Die entsprechenden Missernten führten zur Explosion der Getreidepreise und zu lange anhaltenden Hungersnöten in großen Teilen Europas und Amerikas.

Die Ursache fand man erst 1920 heraus: Der gewaltige Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora im April 1815 hatte nicht nur verheerende regionale Konsequenzen mit Zehntausenden von Toten. Die enorme Aschewolke verdeckte die Sonne auch in Teilen des Westens, mit den genannten gravierenden Folgen.

Historiker führen zahlreiche bedeutende Entwicklungen des Neunzehnten Jahrhunderts direkt oder indirekt auf dieses „Jahr ohne Sommer“ zurück: Soziale Unruhen, Auswanderungswellen, aber auch Gegenmaßnahmen wie soziale Hilfseinrichtungen. Justus von Liebig wurde zur Entwicklung des Mineraldüngers angeregt, Tulla und seine Auftraggeber zur Begradigung des Rheines. So hat der Kampf gegen die großen Überschwemmungen von 1816 den Rhein in das enge Bett gezwungen, dem wir heute unser  – vergleichsweise glimpfliches – Hochwasser verdanken.

Erfreulichere Nebenwirkungen verzeichnet der Historiker Wolfgang Behringer im künstlerischen Bereich. So soll der Maler William Turner zu seinen farbintensiven prä-impressionistischen Landschaftsbildern auch von den damals bezeugten besonderen Sonnenuntergängen angeregt worden sein. Die im Vulkanstaub gebrochenen Sonnenstrahlen ergaben wohl außerordentliche Farbschattierungen. Mary Shelley soll ihren Frankenstein geschrieben haben, weil das andauernd schlechte Wetter sie und ihre Literatenfreunde im Haus gehalten habe, wo sie sich die Zeit mit dem Erfinden von Schauergeschichten vertrieben haben.

Zweihundert Jahre später können wir noch auf besseres Wetter hoffen. Und Christo hat für seine Überwasserlaufkunst wohl keinen katastrophalen Impuls gebraucht.

 

Brief|kas|ten

Man könnte meinen, das Wort Briefkasten müsste man wie schon Rohrpost oder Telegramm zu den aussterbenden Wörtern zählen.

Aber nein, auch im Zeitalter der digitalen Kommunikation kann sich ein Briefkasten noch bezahlt machen. Nur bei mir zuhause nicht.

Begleitmusik:

I’m gonna sit right down and write myself a letter and make believe it came from…

 

Print im Aussterbekloster?

Während der Säkularisation Anfang des 19. Jahrhunderts wurden zahlreiche Klöster geschlossen und weltlichen Zwecken zugeführt. Für die Schwestern und Brüder, die weiter als Ordensleute leben wollten, wurden „Aussterbeklöster“ eingerichtet. Diese nahmen keine Novizen mehr auf und sollten nur so lange bestehen, wie die die dahin verbrachten Ordensleute lebten. „Crepieranstalten für die halsstarrigen klostertreuen Individuen“ nannte dies ein Zeitgenosse.

Während der Digitalisierung zu Beginn des 21. Jahrhunderts werden Printredaktionen geschlossen…
Hat schon jemand Aussterberedaktionen für die halsstarrigen printtreuen Individuen gefordert?

Immerhin waren die Aussterbeklöster im späteren 19. Jahrhundert die Keimzellen für Neu- und Wiedergründungen von Klöstern, die ihren Platz unter veränderten Bedingungen neu definieren mussten.

Versagerknopf

Versagerknopf

Wenn man früher zurücktrat, musste man noch einen Versagerknopf drücken.
Allerdings ging es dabei nur um den Rücktritt von einem Kauf.
Und nur um 50 Pfg.

Blass und unvergessen. Ein Dichter in Darmstadt.

Arno Schmidt

In diesem Hause lebte der Schriftsteller.

Wer sich viel Mühe gibt, findet auch heraus welcher. Es war Arno Schmidt, der von 1955 bis 1958 in der Darmstädter Inselstraße 42 wohnte. Hier schrieb er auch “Tina oder über die Unsterblichkeit“. In der Kurzgeschichte gelangt der Ich-Erzähler durch einen versteckten Zugang in einer Litfaßsäule in die Unterwelt. In diesem nicht ganz so idealen “Elysium” unter Darmstadt müssen  die  toten Dichter so lange verweilen, bis  auf Erden auch die letzte Spur ihres Namens verschwunden ist. Dann erst dürfen sie ins Nirwana und ”endlich in Ruhe tot sein”.
So gesehen ist das Schild mit dem verblassenden Namen möglicherweise ganz im Sinne des Verblichenen. Ein kleiner Schritt ins erlösende Nirwana.

Doch die Darmstädter können auch anders. Etwa die Kommunikationsdesigner der Hochschule Darmstadt, die zum hundertsten Geburtstag des Meisters die inspirierende reale Litfaßsäule vor dem Dichterhaus ein Jahr lang kreativ umgestalten wollen. Zur Eröffnung gab es bereits eine kleine Feier an der Litfaßsäule. Natürlich wurde der Name wieder und wieder genannt. Zur Stärkung reichte man Linsensuppe. Ein älteres Passantenpaar wollte diese Suppe allerdings – freundlich aber bestimmt – keinesfalls essen, denn der Schmidt habe Darmstadt so schlecht gemacht, damals.

So bleibt Arno Schmidt trotz des blassen Schildes auf die eine oder andere Art unvergessen und wird wohl noch eine ganze Weile auf Erlösung warten müssen. In der Darmstädter Unterwelt.

Eherelevante Kunsterfahrung

Aus einer Ehebeurkundung von 1756:

„Den …ten Jun: sind nach geschehener Proclamation, alhier copuliret der kunsterfahrene Junggeselle XY, Organist und Schulbedienter hie-selbst, ….,  und die ehr und Tugendbelobte Jgfr WZ, …“

Dem Manne wurde “Kunsterfahrung” per Heiratsurkunde attestiert. Was allerdings auch kein weicheres Kriterium als “ehr und tugendbelobt” ist.

Was könnte man da heute hinschreiben?
“Der internetaffine Single, Blogger und Barkeeper” und “die Unnahbare mit den 1000 Facebook-Freunden”?
“Copuliret”, gerne auch “öffentlich in der Kirche kopuliert”, müsste man ja heute auch anders formulieren.

Alles nur Fassade

Doch das Elend war echt:

“Die Frauen aus den Bordellen der Cité schaben Backsteine mit einem Holzstück ab, um sich zu schminken.”
Aus dem Journal der Brüder Goncourt, das kürzlich in einer vollständigen deutschen Ausgabe bei Haffmans/Zweitausendeins erschienen ist.

 

Nach dem Zweiten Weltkrieg sollen Frauen in Deutschland abfärbendes rotes Einwickelpapier von Ersatzkaffee als Rouge für Lippen und Wangen verwendet haben.

Das erste Hipster-Lexikon

wurde vor etwa 75 Jahren veröffentlicht. Cab Calloway’s “A Hepster’s Dictionary: Language of Jive”  (1939, nach früheren undatierten Versionen).

CabCallowayDamals hießen die Hipster auch Hepster, und wer in der Szene wirklich Bescheid wusste, war ein “hep cat”.Die Szene, das waren Jazz-Musiker und ihr Umfeld im Harlem der Dreißiger und Vierziger Jahre.
Calloway war ein ein äußerst vielseitiger und erfolgreicher Musiker. Er war nicht nur der erste Afroamerikaner, der ein Wörterbuch publizierte, sondern auch modisch stilbildend. Er machte etwa den Zoot Suit populär, einen Anzug mit extrem langem, weit geschnittenem Jackett, und sehr weiten Hosen.Vielleicht der einzige Anzug, nach dem gewalttätige Unruhen benannt wurden, die Zoot Suit Riots.

Dieser Typ Hipster schaffte es auch bis in die Fünfziger Jahre: Der „oft schwarze Unterschichtsabkömmling, der sich clever und smart durchs Leben schlägt… Er ist der Stadtmensch mit dem coolen Ton, passionierter Eckensteher… immer chic und ausgewählt gekleidet, entweder im Zoot Suit… mit breiter, gemusterter Krawatte oder im Continental, dem leichten Sommeranzug mit schmalem Revers und Strickschlips“, schreiben Sommer & Wind in ihrem „Streifzug durch die verwirrende Welt der Jugendstile“ von 1986 (nur ganz leichte Eigenwerbung, da das Buch längst vergriffen ist). Diese Hipster beeinflussten übrigens auch die Stile der britischen Mods und Teds.

Die heutigen Hipster lassen sich dagegen eher mit den Beatniks, der anderen einflussreichen amerikanischen Bewegung der Fünfziger in Verbindung bringen. Selbstverständlich pflegen sie auch eine andere Sprache als der alte Calloway. Doch auch sie haben ihr “Hipster Handbook“.

Während die alten Hipster weitgehend vergessen sind, werden die neuen zwar auch längst totgesagt, aber doch weiter diskutiert. Und sollten sie doch verschwunden sein, so hätten wir immer noch das „Hipster-Quartett“.
Mit dem vertreiben wir uns die Zeit bis zum Auftritt der nächsten Hipster-Generation.