Bibelleser Mursi?

„Mursi liest dem Westen die Leviten“
So titelte gestern Spiegel Online.
Die Redewendung „Leviten lesen“ geht zurück auf christliche Strafpredigten des Mittelalters. Diese griffen insbesondere auf das Dritte Buch Mose (Levitikus) zurück. Also auf die „Satzungen und Gesetze, die der Herr zwischen ihm selbst und den Kindern Israel gestellt hat“. In denen es unter anderem heißt: „Denn ich bin der Herr, euer Gott, der euch aus Ägyptenland geführt hat, dass ihr meine Knechte wäret, und habe euer Joch zerbrochen und habe euch aufgerichtet wandeln lassen“.
Hm. Mohammed Mursi als Leser der Bibel? Der Tora gar? Die traditionelle religiöse Schulung jüdischer Jungen beginnt mit dem Lesen eben dieses Dritten Buch Mose.
Das eröffnet ganz neue Perspektiven für Ägypten und den Nahen Osten.
Doch dies war wohl auch Spiegel Online dann zu kühn.
Und so hieß der Titel denn am Abend „Mursi rechnet mit dem Westen ab“.
Schade eigentlich.

Oftmals

Oftmals hab ich mich gefragt,
warum wird so oft nicht oft gesagt?

Es scheint mehr und mehr zu verschwinden. Das kleine Wörtchen „oft“. Geschluckt vom umständlich-prätentiösen „oftmals“ wie ein unauffälliger, aber funktionierender Familienbetrieb vom Marketing-getriebenen Konzern.
Paradoxerweise scheint „oftmals“ gerade bei Jüngeren beliebt zu sein. Bei Menschen, die ansonsten knapp und salopp formulieren, die so oft mit 140 Zeichen auskommen müssen.
Mitten im Satz steht da plötzlich diese sprachliche Zinnteller-Vitrine.
So zumindest mein subjektiver Eindruck. Wenn das zutrifft, wie kommt das, was bedeutet das? Ist das nur eine erratische Modeentwicklung ohne tieferen Hintergrund? Ist es die systematische Nutzung einer einfachen Möglichkeit, dem Gesagten einen gehobenen Anschein zu geben?

Dabei ist oft nicht einmal die Verkürzung von oftmals, sondern die vollständige und etablierte Urform (schon im Althochdeutschen „ofto“) mit der Bedeutung „häufig wiederkehrend“. Anders als bei „manchmal“ leistet also der Zusatz „mals“ keinen neuen Bedeutungsbeitrag.  Das Grimmsche Wörterbuch lässt eine Entstehung von „oftmals“ aus Wendungen wie „zum oftern (=öfteren) male“ vermuten. „.. und kusset die jungfrawen zum ofternmal“ wird dort zum Beispiel angeführt. Laut demselben Wörterbuch ist oftmals „jetzt … veraltet und durch das einfache oft, öfter (öfters) wieder ersetzt.“ Ein Wörterbuch von 1910 verzeichnet „oft“ als „üblichere(n) und edlere(n) Ausdruck von beiden“.
Das scheint nicht mehr oft so gesehen zu werden..

Euthanasie und Euphemismus

http://www.tagesspiegel.de/berlin/vor-der-neuen-nationalgalerie-gelogene-wahrheit-ueber-gerhard-richters-tante-marianne/6526736.html

Diese Unschärfe hatte Gerhard Richter dann wohl doch nicht gemeint.

Quasselstoppe

„Betrachten wir nun die menschliche Stimme als Waffe. Bis zu welchem Grad kann man mit der bloßen Stimme Effekte kopieren, wie sie mit einem Tonbandgerät erzeugt werden können? Lernen mit geschlossenem Mund zu sprechen, sodass die Worte praktisch isoliert im Raum stehen, ist ziemlich einfach“
William Burroughs, Die elektronische Revolution. 1971/1972.

Dauerquassler nerven bekanntlich, nicht nur wenn sie laut sind. Häufig verbinden sie  mit ihrem unterbrechungsfreien Gerede die Vorstellung, ihre „Gesprächspartner“ zu beeinflussen, indem sie ihnen ihre Sicht der Dinge aufdrängen.

Aus kommunikationspsychologischer Sicht ist dies natürlich dumm. Denn wer so kommuniziert, hört nur, was er schon weiß, aber nicht, was der andere weiß oder will. Ein klarer Nachteil, weil man generell nichts dazulernt und konkret nichts über den anderen erfährt und ihn so erst recht nicht beeinflussen kann.
Hinzu kommt die „Reaktanz“ beim Partner, der den unfairen Kommunikanten ablehnen wird.

Vor einigen Jahren haben wir an der Universität Heidelberg ein Experiment zum Thema „Überzeugen“ durchgeführt. Unter anderem zeigte sich, dass viel redende Probanden sehr überzeugt sein konnten, ihr Gegenüber von ihrem Standpunkt überzeugt zu haben. „Dem Fräulein habe ich jetzt mal die Augen geöffnet“. Zu dumm, dass wir auch „das Fräulein“ befragten: „Der Blödmann hat nur Stuss geredet, ich bin kaum zu Wort gekommen. Irgendwann war es mir zu blöd und ich habe es ganz gelassen.“ (Aussagen sinngemäß wiedergegeben)
Musik-Einblendung: Mose Allison „Your mind is on vacation and your mouth is working overtime“.
Sprachlicher Dauerbeschuss geht also nach hinten los.

Japanische Forscher verschärfen diesen Effekt nun mit einem sprachlichem „Selbstschussgerät“. Ihr SpeechJammer ist ein handliches Gerät, das per Mikrofon und Lautsprecher für Stille sorgt. Diese Wortkanone gibt dem Quassler die eigenen Worte mit kurzer Verzögerung zurück. Das Echo soll so irritierend sein, dass Weitersprechen nahezu unmöglich wird.

Dass der Effekt auch unplugged funktioniert, zeigen die „Bösen Mädchen“ bei RTL.

Nach radikaler ist die Lösung, die Philip Garner in den Achtzigern vorschlug: Der Talkman (Bild oben), der das Geschwätz ohne jede Umweltbelastung im Schwätzer selbst kurzschließt. Womit wir wieder bei dem Burroughs-Zitat von oben wären.

Die schriftliche Variante des Talkman:
„Das bisschen, das ich lese, schreibe ich mir selbst“.

Schulmedizin

Vielleicht der größte Kommunikationscoup der Pseudo- oder Placeboheiler. Sie haben das Wort „Schulmedizin“ im allgemeinen Sprachgebrauch etabliert. Auch seriöse Medien, zuletzt etwa die Süddeutsche Zeitung, verwenden den abschätzigen Begriff ohne ihn zu hinterfragen. Es ist ihnen sogar gelungen, dass viele der Geschmähten selbst – seriöse Mediziner – das Etikett auf sich selbst anwenden. Welche PR-Agentur würde sich eine solche Leistung zutrauen?

Woran denkt man, wenn man „Schulmedizin“ hört? An Schule, starres, vertrocknetes, lebensfernes Büffelwissen? An dessen menschenfeindliche Auswüchse: „Apparatemedizin“, „Pharmakeule“? Nicht unwahrscheinlich. Der Gegenpol? „Erfahrungsmedizin“, „Alternativmedizin“, „Komplementärmedizin“ etc.

Laut Wikipedia prägte der homöopathische Arzt Franz Fischer den Ausdruck „Schulmedizin“ 1876 in einem Brief an die „Homöopathischen Monatsblätter“ – auch schon gezielt abwertend. Fischer bezog sich dabei wohl auf eine Formulierung des Homöopathie-Begründers Samuel Hahnemann von 1832. Mit „Mediziner der Schule“ nahm dieser die sogenannte allopathische Medizin aufs Korn, nicht etwa die wissenschaftlich und staatlich legitimierte Medizin, die sich in Deutschland erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierte.  Im Nationalsozialismus wurde der Begriff „Schulmedizin“ benutzt, um eine „gesunde“ „Volksmedizin“ oder eine „Neue Deutsche Heilkunde“ als Gegenstück zur „verjudeten Schulmedizin“ zu propagieren. Details finden sich in einer Dissertation von 1974. Eine Analyse der jüngsten Begriffsgeschichte wäre ebenso interessant wie eine empirische Untersuchung der oben als wahrscheinlich angenommenen Konnotationen.

Was soll man denn stattdessen sagen? Vielleicht einfach nur „Medizin“. Das würde den nicht seriösen Ansätzen die angemaßte medizinische Legitimation nehmen.   Oder Hochschulmedizin, wissenschaftliche Medizin, wissenschaftsbasierte Medizin. Aber muss die Mathematik sich „wissenschaftliche Mathematik“ nennen? Etwa um sich von der „Erfahrungsmathematik“ der Peter-Zwegat-Kundschaft abzugrenzen? Muss der Ingenieur sich Schwerkraft-Ingenieur nennen, nur weil er nicht mit Levitation arbeitet?

Der Begriff „Erfahrungsmedizin“ ist übrigens auch ein Etikettenschwindel. Es ist ja gerade die seriöse Medizin, die auf Erfahrung beruht. Auf wissenschaftlich überprüfter und weiter überprüfbarer Erfahrung. Und nicht auf der trügerischen Erfahrung, dass der Schamane heilt, weil er sich eine Woche lang zu dem Grippe-Kranken legt und die Krankheit übernimmt. Auch nicht auf der Erfahrung, dass Männer, die getrockneten Tigerpenis zu sich genommen haben, Sex haben können. Auch nicht auf fortwährender dogmatischer Leugnung von Empirie und Naturgesetzen.

Wer heilt hat recht. Dumm ist nur, dass es gar nicht so einfach ist, eine Heilung auf eine spezifische Maßnahme zurückzuführen. Klug ist, wer wenigstens darauf achtet, die eine oder andere sprachliche „Infektion“ nicht noch weiter zu verbreiten.

 

Rentenwegfallalter

Bürokratenwort für Sterbealter.
Gerade wieder in der Öffentlichkeit, im Kontext der Diskussion zum Thema „Wer früher stirbt, war länger arm“.
Kein schönes Wort, aber aus Perspektive der Rentenkassen wohl zutreffend.
Nur nicht in Griechenland, da sind zu häufig nur die Rentner, nicht aber die Renten weggefallen.

Im Gegensatz zum „Rentenwegfallalter“ scheint das „sozialverträgliche Frühableben“ – „Unwort des Jahres“ 1998 – vom damaligen Ärztepräsidenten ironisch-provokativ verwendet worden zu sein. Hat aber wohl keiner gemerkt.

Scheinbar hochauflösend

„Bei ‚Markus Lanz‘ sagt das Ehepaar Benecke, was scheinbar in Menschen vor geht, die morden, foltern oder andere Menschen missbrauchen.“
ZDF-Ankündigung für den 23.11.2011
Wozu lädt man Experten ein, wenn die doch nur sagen können, was scheinbar (also in Wahrheit eben nicht) in solchen Menschen vorgeht?
Was geht in gewerblichen Autoren vor, die „scheinbar“ und „anscheinend“ nicht auseinander halten können?
Für alle, die den Unterschied nochmals nachlesen wollen:
http://de.wiktionary.org/wiki/scheinbar
Vielleicht meinte der Autor auch „wahrscheinlich“ oder brauchte nur ein irgendein Füllwort. Aber  Hochmut ist billig, und eigener Fall soll auch vorkommen.

Verstehen wir Wörter einmal einfach nur als Klangbilder oder Tintenkleckse, die im Kopf der Rezipienten bestimmte Vorstellungen auslösen.  Dann ist es letztlich eine Sache mehr oder minder willkürlicher Übereinkunft, welche Buchstabenkombination welche Vorstellungen auslöst(1).
Wenn also Sprecher wie Hörer mit dem Wort „scheinbar“ die Bedeutung von „anscheinend“ verbinden, wie es bei vielen Alltagssprechern anscheinend der Fall ist, wird beim Hörer wohl die  gewünschte Vorstellung hervorgerufen(2). Pragmatisch zunächst prima. Was immer der Duden sagen mag.
Wenn das Wort „anscheinend“ allerdings gar nicht im sprachlichen Repertoire ist, fehlt eine wesentliche Ausdrucksmöglichkeit für diese Bedeutungsmöglichkeit(3).
Man könnte also sagen, ZDF HD sendet Bilder in hoher Auflösung, aber Text in geringer Auflösung.
Low-Definition-Text also.

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(1) Von bestimmten Nahelegungen einmal abgesehen. So eignet sich etwa „Wau“ als Bezeichnung für Hundebellen viel besser als etwa „Infinitesimalrechnungsprüferin“. Und überhaupt: Warum ist „scheinbar“ nicht das Gegenteil von „unscheinbar“?
(2) Hörer mit den differenzierten standardsprachlichen Bedeutungen im Kopf wird allerdings die ärgerliche Mühe abverlangt, sich zu überlegen, was nun wirklich gemeint sein könnte, und ob es dem Schreiber auch sonst an kognitiver Differenzierung mangelt. Den anderen wird nicht die Chance gegeben, etwas differenzierter zu werden.
(3) Oder sie muss durch umständliche Formulierungen ersetzt werden.

Das Gegenstück zu „introvertiert“ heißt natürlich…

nicht „extrovertiert“, sondern „extravertiert“.
Zumindest bei C.G. Jung, der den Begriff geprägt hat, und bei H.-J. Eysenck, der die Persönlichkeitsdimension „Introversion-Extraversion“ in die moderne, empirische Psychologie gebracht hat.
Und bei den Lateinern, bei denen Jung sich bedient hatte. Die kennen zwar „intra“ (innerhalb) und „intro“ (hinein), aber nur „extra“.
Dieses Manko hat die deutsche Alltagssprache nun behoben. Wenn Latein die „späte Rache der Römer an den Germanen“ (Stupipedia) ist, so ist „extrovertiert“ die noch spätere Rache der Germanen an den Römern. Und die Rache der Alltagssprache an der Wissenschaft.
Selbst im Duden steht das O-Wort schon.
Die Wissenschaftler ziehen dazu ein Gesicht wie Günter Grass bei der Rechtschreibreform. Aber sie können sich ja immer noch durch das A-Wort abgrenzen. Und der eng definierte wissenschaftliche Terminus hat ja letztlich auch eine andere Bedeutung als die gekaperte Alltagsversion, die robust und unbekümmert für profane, lautere wie unlautere Alltagszwecke eingesetzt wird. Das gilt für andere Fachbegriffe ebenso. Hier allerdings trennt das a & o Spezialisten und Laien schon auf den ersten Blick.

Sie können Ihre Haltung jetzt ablegen

Erwartung. Das Wort scheint es ohne angehängte Haltung gar nicht
mehr zu geben.
Erwartungshaltung.
Ist denn jede Erwartung gleich eine Haltung?
Vielleicht tut es auch mal die einfache Erwartung.
Sonst kriegen wir eines Tages noch das Verb dazu: Ich erwartungshalte, du erwartungshältst,…

Aufs Auge

„Passt wie die Faust aufs Auge“.
Wird heute sehr häufig für eine besonders gute Passung verwendet.
Früher war das anders – zumindest in meiner subjektiven Erinnerung. Da stand die Formulierung für etwas, das auf eine präzise Art äußerst unpassend war. Denn die Faust gehört ja nun gerade nicht aufs Auge. Aus dieser Doppelbödigkeit ergibt sich auch die früher dominierende ironische Verwendung.

Ist da nur die Ironie verloren gegangen? Das einfache Nach- (oder Vor-)Denken über das, was man sagt? Oder ist es schlicht üblicher geworden zu denken, dass die Faust wirklich aufs Auge passt?

Es soll ja auch Leute geben, die der Meinung sind, Loriots neue Hose passe so perfekt wie vom Verkäufer behauptet.