Schulmedizin

Vielleicht der größte Kommunikationscoup der Pseudo- oder Placeboheiler. Sie haben das Wort „Schulmedizin“ im allgemeinen Sprachgebrauch etabliert. Auch seriöse Medien, zuletzt etwa die Süddeutsche Zeitung, verwenden den abschätzigen Begriff ohne ihn zu hinterfragen. Es ist ihnen sogar gelungen, dass viele der Geschmähten selbst – seriöse Mediziner – das Etikett auf sich selbst anwenden. Welche PR-Agentur würde sich eine solche Leistung zutrauen?

Woran denkt man, wenn man „Schulmedizin“ hört? An Schule, starres, vertrocknetes, lebensfernes Büffelwissen? An dessen menschenfeindliche Auswüchse: „Apparatemedizin“, „Pharmakeule“? Nicht unwahrscheinlich. Der Gegenpol? „Erfahrungsmedizin“, „Alternativmedizin“, „Komplementärmedizin“ etc.

Laut Wikipedia prägte der homöopathische Arzt Franz Fischer den Ausdruck „Schulmedizin“ 1876 in einem Brief an die „Homöopathischen Monatsblätter“ – auch schon gezielt abwertend. Fischer bezog sich dabei wohl auf eine Formulierung des Homöopathie-Begründers Samuel Hahnemann von 1832. Mit „Mediziner der Schule“ nahm dieser die sogenannte allopathische Medizin aufs Korn, nicht etwa die wissenschaftlich und staatlich legitimierte Medizin, die sich in Deutschland erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierte.  Im Nationalsozialismus wurde der Begriff „Schulmedizin“ benutzt, um eine „gesunde“ „Volksmedizin“ oder eine „Neue Deutsche Heilkunde“ als Gegenstück zur „verjudeten Schulmedizin“ zu propagieren. Details finden sich in einer Dissertation von 1974. Eine Analyse der jüngsten Begriffsgeschichte wäre ebenso interessant wie eine empirische Untersuchung der oben als wahrscheinlich angenommenen Konnotationen.

Was soll man denn stattdessen sagen? Vielleicht einfach nur „Medizin“. Das würde den nicht seriösen Ansätzen die angemaßte medizinische Legitimation nehmen.   Oder Hochschulmedizin, wissenschaftliche Medizin, wissenschaftsbasierte Medizin. Aber muss die Mathematik sich „wissenschaftliche Mathematik“ nennen? Etwa um sich von der „Erfahrungsmathematik“ der Peter-Zwegat-Kundschaft abzugrenzen? Muss der Ingenieur sich Schwerkraft-Ingenieur nennen, nur weil er nicht mit Levitation arbeitet?

Der Begriff „Erfahrungsmedizin“ ist übrigens auch ein Etikettenschwindel. Es ist ja gerade die seriöse Medizin, die auf Erfahrung beruht. Auf wissenschaftlich überprüfter und weiter überprüfbarer Erfahrung. Und nicht auf der trügerischen Erfahrung, dass der Schamane heilt, weil er sich eine Woche lang zu dem Grippe-Kranken legt und die Krankheit übernimmt. Auch nicht auf der Erfahrung, dass Männer, die getrockneten Tigerpenis zu sich genommen haben, Sex haben können. Auch nicht auf fortwährender dogmatischer Leugnung von Empirie und Naturgesetzen.

Wer heilt hat recht. Dumm ist nur, dass es gar nicht so einfach ist, eine Heilung auf eine spezifische Maßnahme zurückzuführen. Klug ist, wer wenigstens darauf achtet, die eine oder andere sprachliche „Infektion“ nicht noch weiter zu verbreiten.