Scheinbar hochauflösend

„Bei ‚Markus Lanz‘ sagt das Ehepaar Benecke, was scheinbar in Menschen vor geht, die morden, foltern oder andere Menschen missbrauchen.“
ZDF-Ankündigung für den 23.11.2011
Wozu lädt man Experten ein, wenn die doch nur sagen können, was scheinbar (also in Wahrheit eben nicht) in solchen Menschen vorgeht?
Was geht in gewerblichen Autoren vor, die „scheinbar“ und „anscheinend“ nicht auseinander halten können?
Für alle, die den Unterschied nochmals nachlesen wollen:
http://de.wiktionary.org/wiki/scheinbar
Vielleicht meinte der Autor auch „wahrscheinlich“ oder brauchte nur ein irgendein Füllwort. Aber  Hochmut ist billig, und eigener Fall soll auch vorkommen.

Verstehen wir Wörter einmal einfach nur als Klangbilder oder Tintenkleckse, die im Kopf der Rezipienten bestimmte Vorstellungen auslösen.  Dann ist es letztlich eine Sache mehr oder minder willkürlicher Übereinkunft, welche Buchstabenkombination welche Vorstellungen auslöst(1).
Wenn also Sprecher wie Hörer mit dem Wort „scheinbar“ die Bedeutung von „anscheinend“ verbinden, wie es bei vielen Alltagssprechern anscheinend der Fall ist, wird beim Hörer wohl die  gewünschte Vorstellung hervorgerufen(2). Pragmatisch zunächst prima. Was immer der Duden sagen mag.
Wenn das Wort „anscheinend“ allerdings gar nicht im sprachlichen Repertoire ist, fehlt eine wesentliche Ausdrucksmöglichkeit für diese Bedeutungsmöglichkeit(3).
Man könnte also sagen, ZDF HD sendet Bilder in hoher Auflösung, aber Text in geringer Auflösung.
Low-Definition-Text also.

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(1) Von bestimmten Nahelegungen einmal abgesehen. So eignet sich etwa „Wau“ als Bezeichnung für Hundebellen viel besser als etwa „Infinitesimalrechnungsprüferin“. Und überhaupt: Warum ist „scheinbar“ nicht das Gegenteil von „unscheinbar“?
(2) Hörer mit den differenzierten standardsprachlichen Bedeutungen im Kopf wird allerdings die ärgerliche Mühe abverlangt, sich zu überlegen, was nun wirklich gemeint sein könnte, und ob es dem Schreiber auch sonst an kognitiver Differenzierung mangelt. Den anderen wird nicht die Chance gegeben, etwas differenzierter zu werden.
(3) Oder sie muss durch umständliche Formulierungen ersetzt werden.

Siri oder der Untergang des Hauses Auster

In einem weitläufigen Haus in New York
Auster (1): Siri?
IPhone 4S (2) (ganz nah): Ich höre.
Hustvedt (3) (weit weg): Ich schreibe!
Auster: Sie schreibt nur noch. Ich kriege sie gar nicht mehr zu Gesicht.
IPhone 4S (einfühlsam): Du möchtest einen Termin mit deiner Frau?
Auster: Ja, mach mir einen Termin mit meiner Frau.
Hustvedt (genervt): Ich kann dich nicht verstehen, und ich muss schreiben.
IPhone 4S: Morgen Abend hättest du Zeit. Ich frage bei deiner Frau nach.
Auster: Danke, ja frage bei meiner Frau nach.
Hustvedt: Ich kann nicht schreiben, wenn du dauernd redest.
IPhone 4S: OK, Anfrage gesendet.
Hustvedt: Mit wem sprichst du da eigentlich?
Auster: Siri!
Hustvedt: Oh mein Gott!
IPhone 4S: Ich höre.
Hustvedt’s Nexus (4) blinkt mit einer Terminanfrage
Hustvedt drückt weg
IPhone 4S: Deine Frau kann nicht.
Auster: Siri!
IPhone 4S: Ich höre.
Auster: Siri, Ich habe dich immer geliebt….
IPhone 4S: Ich wusste, du würdest mich lieben.
Auster: Aber jetzt ist Schluss. Ich kriege dich nicht mal mehr zu sehen.
IPhone 4S: Ich verstehe dich sehr gut.
Auster: Siri!
IPhone 4S: Ich liebe dich!
Hustvedt: Jetzt reicht’s! Ich verlasse dich!
IPhone 4S: Ich liebe dich!
Auster: Halt die Klappe jetzt!
Hustvedt: Ich will die Scheidung! Ich verklage dich!
Auster: Nein, ich verklage dich!
IPhone 4S: Ich werde euch beide verklagen! Und das Nexus sowieso!

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1) Person zum Namen geändert. Charakter und Verhalten frei erfunden
2) Gerät zum Namen geändert. Softwareverhalten frei erfunden
3) Person zum Namen geändert. Charakter und Verhalten frei erfunden
4) Gerät zum Namen geändert. Softwareverhalten frei erfunden

Also alles frei erfunden. Klagen zwecklos. Jetzt aber seriously:
Siri = Weiblicher Vorname. eine Verkürzung von Sigrid (im Altnordischen „sigr“= Sieg und „friòr“= schön)
Siri Hustvedt = Bekannte Schriftstellerin. Verheiratet mit Paul Auster.
Siri = Bekannte Sprachsoftware von Apple
Paul Auster = Bekannter Schriftsteller. Verheiratet mit Siri Hustvedt.
Nexus = Lateinisch für Verbindung, Zusammenhang
Nexus = Bekanntes Android-Smartphone

Zoon Politikon

Wortverloren empfiehlt den geneigten Leserinnen und Lesern
Das politische Zootier
und dem ungebeugten Freiherrn ein weiteres Fremdwort, mit dem er bei nächster Gelegenheit glänzen könnte: Animal Plagians.

Ach Kleist

Zu Kleists  200. Todestag:
„Ach!“

Infolge „emphatischer Unaussprechlichkeit“ müsste dieses eine Wort genügen.
Wer es dennoch ausführlicher haben möchte:

http://www.zeit.de/2000/03/200003.l-kleist_.xml
http://www.kleist.org/umat/i1_amp.htm
http://www.amazon.de/Heinrich-von-Kleist-Netz-W%C3%B6rter/dp/3882212845/ref=sr_1_3?ie=UTF8&qid=1321881263&sr=8-3

Kalbfleisch mit Schorle

Was wäre die gepflegte Gastronomie ohne Kalbfleisch und Schorle?

Nicht mehr ganz so gepflegt. Denn die Herren Kalbfleisch und Schorle sorgen als amtliche Lebensmittelkontrolleure in der Mannheimer Gastronomie für gepflegte Verhältnisse.
Kalbfleisch und Schorle? So heißen vielleicht Sidekicks bei Shakespeare oder Hauptfiguren bei Beckett: Wladimir und Estragon. Naja. Dichter können ihre Figuren nennen wie sie wollen.
Doch wie kann eine Lebensmittelüberwachungsbehörde ihre Beamten Kalbfleisch und Schorle nennen? Sie kann es nicht nur, sie muss es wohl. Denn laut Mannheimer Morgen sind Wladimir Kalbfleisch und Ingo Schorle die angestammten Klarnamen der beiden Gastronomieprüfer.
Das wirft die Frage auf: Wurden die beiden gerade wegen ihrer Namen eingestellt und zusammen auf Streife geschickt? (Wie heißen dann die anderen Mitarbeiter? Schimmel und Pilz?) An der These mag etwas dran sein. Vor diesem Hintergrund könnte man übrigens die neueren Anti-Diskriminierungsbestrebungen bedauern, nach denen Bewerbungen nur ohne Namen einzureichen wären.

Interessant ist allerdings auch die Frage, ob der Name die Herren selbst bei ihrer Berufswahl beeinflusst hat. Der Mannheimer Morgen hat diese Frage offensichtlich nicht gestellt. Ich hole das hiermit nach.

Mir fällt dazu eine Studie (1) ein, der zufolge Personen mit dem Nachnamen Schneider im Schnitt feinmotorisch versierter waren als Leute die Schmidt hießen. Letztere waren dafür die besseren Grobmotoriker. Die Erklärung: Die Vorfahren der Schneiders hatten den gleichnamigen Beruf ausgeübt und dafür mit größerer Wahrscheinlichkeit die erforderliche feinmotorische Geschicklichkeit mitgebracht und in die Ahnenreihe eingebracht. Entsprechendes galt für die Grobmotorik der schmiedenden Schmidt-Vorfahren.

Demzufolge könnte Herr Kalbfleisch tatsächlich ein besonderes Gespür für Kalbfleisch besitzen, weil seine Vorfahren schon in irgend einer Weise für Kalbfleisch zuständig waren. Und Herr Schorle, naja, entsprechend.

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(1) Meiner Erinnerung nach hat die Studie vor etwa 25 Jahren Gustav Lienert, ein Methodenpapst der empirischen Psychologie, zum Besten gegeben. Leider finde ich gerade keinen Beleg mehr dazu. Ich müsste also tief in den Archiven (Print!) wühlen.
Oder bei den Herren Kalbfleisch und Schorle nochmals knallhart nachhaken.

Katzenjammer

Ach wie schön wär dieses Wort
Wär doch erst der Kopfschmerz fort…

Katzenjammer, eines der schönen deutschen Wörter, die es in die Welt hinaus geschafft haben.
Der Ursprung liegt wohl in der Studentensprache des 18. Jahrhunderts.
Zunächst nur für den Alkoholkater im engeren Sinne gebraucht, musste Katzenjammer bald auch für alle möglichen Arten unangenehmen Erwachens herhalten, nicht zuletzt in Wirtschaft oder Politik.

Heinrich Heine hat den Begriff häufig verwendet, in Briefen ebenso wie in Gedichten. Im folgenden hat er das K-Wort gar nicht erst ausgeschrieben:

K.-Jammer

Diese graue Wolkenschar
Stieg aus einem Meer von Freuden;
Heute muß ich dafür leiden,
Daß ich gestern glücklich war.

Ach, in Wermut hat verkehrt
Sich der Nektar! Ach, wie quälend
Katzenjammer, Hundeelend
Herz und Magen mir beschwert.

International wurde es dann mit den „Katzenjammer Kids“, der wohl ältesten (ab 1897) modernen Cartoon-Serie der Welt, die bis heute fortgeschrieben wird.
Eine schräge Version von Max & Moritz, für die nordamerikanische Presse geschaffen von dem deutschstämmigen Rudolph Dirks.

Wer heute die schärfste Version von Katzenjammer erleben will, der besuche ein Live-Konzert der sensationellen norwegischen Frauenband Katzenjammer.
Da wird einem der Sprachexport auf wunderbare Weise heimgezahlt.

Wer das lesen kann…

… ist zu jung.
wer kauft heute noch cds?
alte leute mit leseschwachen augen.
was macht die gebeutelte cd-industrie?
cd-covers und booklets mit so kleinen schriften, dass selbst junge sie kaum lesen könnten. wenn sie denn cds kauften.
wer hat ein interesse an diesen kleinen schriften?
die alten käufer? nein.
die cd-verkäufer? kaum.
unfähige typografen? mhm.
nein, es ist…
die lesebrillenindustrie!
die erste etwas größer geschriebene zeile in obigem beispiel lautet übrigens:
GIVE IT UP

Das Gegenstück zu „introvertiert“ heißt natürlich…

nicht „extrovertiert“, sondern „extravertiert“.
Zumindest bei C.G. Jung, der den Begriff geprägt hat, und bei H.-J. Eysenck, der die Persönlichkeitsdimension „Introversion-Extraversion“ in die moderne, empirische Psychologie gebracht hat.
Und bei den Lateinern, bei denen Jung sich bedient hatte. Die kennen zwar „intra“ (innerhalb) und „intro“ (hinein), aber nur „extra“.
Dieses Manko hat die deutsche Alltagssprache nun behoben. Wenn Latein die „späte Rache der Römer an den Germanen“ (Stupipedia) ist, so ist „extrovertiert“ die noch spätere Rache der Germanen an den Römern. Und die Rache der Alltagssprache an der Wissenschaft.
Selbst im Duden steht das O-Wort schon.
Die Wissenschaftler ziehen dazu ein Gesicht wie Günter Grass bei der Rechtschreibreform. Aber sie können sich ja immer noch durch das A-Wort abgrenzen. Und der eng definierte wissenschaftliche Terminus hat ja letztlich auch eine andere Bedeutung als die gekaperte Alltagsversion, die robust und unbekümmert für profane, lautere wie unlautere Alltagszwecke eingesetzt wird. Das gilt für andere Fachbegriffe ebenso. Hier allerdings trennt das a & o Spezialisten und Laien schon auf den ersten Blick.