World Toilet Day

„And so I to bed, and in the night was mightily troubled with a looseness (I suppose from some fresh damp Linnen that I put on this night); and feeling for a chamber pott, there was none, I having called the mayde up out of her bed, she had forgot I suppose to put one there; so I was forced in this strange house to rise and shit in the Chimny twice; and so to bed and was very well again and to sleep till 5 a-clock…“
Samuel Pepys, Tagebücher,  28. September 1665
(Deutsche Fassung am Ende des Beitrags)

Heute ist Welttoilettentag. Weniger banal, als es scheinen mag.

Ein Teil der Welt ist auf Trinkwasser angewiesen, das mit Fäkalien verseucht ist, während ein anderer Teil die Fäkalien mit kostbarem Trinkwasser wegspült.
Wissenschaftler arbeiten daran, die Exkremente schon im Haus möglichst ohne Wasser direkt in in Energie zu wandeln.
Aus dieser Perspektive mutet die Pepys’sche Kaminlösung geradezu visionär an.

Deutsche Fassung des Zitats:
“Darauf zu Bett. Doch wachte ich mitten in der Nacht mit furchtbarem Durchfall auf (vermutlich weil ich ein noch feuchtes Laken aufgezogen hatte). Ich tastete unter dem Bett nach dem Nachttopf, fand aber keinen. Das Zimmermädchen hatte ihn wohl hinzustellen vergessen, weil ich erst so spät nach Hause gekommen war. War daher gezwungen, mich in dem mir fremden Haus zweimal im Kamin zu erleichtern. Danach ging es wieder, und ich schlief ein“.
(Deutsche Ausgabe, Haffmanns & Tolkemitt, 2010)

Fortschrittsbeschwerden

„Mein Gehirn wurde nach etlichen Fahrten gestaucht, gezerrt und gepresst. … Mein Magen befand sich auch nicht mehr in seiner ursprünglichen Position. Letztendlich, glaube ich, ist er zwischen Herz und Lungenflügel zum Stehen gekommen. … Die Entfernung zwischen Magen und Mund ist nicht mehr allzu lang.“

Weltrekordversuch im Achterbahnfahren? Belastungstest für Kampfjetpiloten?
Nein, dieser Bericht stammt von einem Mann, der Fahrstuhl gefahren ist. Nur in den achten Stock und zurück. Allerdings sechseinhalb Stunden ohne Unterbrechung.
Kein Wunder. Zumal der Mann hätte gewarnt sein können:

Schon vor über 120 Jahren schrieb der Scientific American, dass das Fahrstuhlfahren nur einen Nachteil habe, es verursache „dizziness to the head and sometimes a nausea to the stomach. The internal organs want to rise in the throat“.

Die Elevator Sickness war definiert und wurde in den Jahren nach 1890 anscheinend häufig diagnostiziert. Und zwar keineswegs bei Extremfahrern wie unserem Gewährsmann von 2011, sondern bei gewöhnlichen Gelegenheitspassagieren, wohl auch schon bei einer einzigen Fahrt.

Die Ursache dieser Übelkeit sah man im abrupten Stopp der Fahrt. Dabei kämen nicht alle Körperteile gleichzeitig zum Stillstand. Beim Abwärtshalt etwa stünden die Füße schon still, während die anderen Körperteile noch herabsausten. Messerscharfe Ableitung der Prävention: Kopf und Schultern gegen die Kabinenwand pressen und so sicherstellen, dass alle Körperregionen gleichzeitig anhalten. Man stelle sich den verbissenen Kampf um die Plätze an der Kabinenwand vor, die verzweifelten Gesichter der Verlierer in der haltlosen Mitte.

Nach wenigen Jahren muss man es hinbekommen haben, ungestützt und einigermaßen gelassen auf und ab zu fahren. Jedenfalls wird nicht mehr darüber berichtet. Und auch im Internationalen Diagnoseverzeichnis der WHO scheint die Elevator Sickness nicht gelistet. Was man dort – zumindest indirekt –  finden könnte, ist Elevator Disease. Darunter versteht man Lungenprobleme, die auf die Arbeit in Getreidesilos (grain elevators)  zurückzuführen sind.

Die bemerkenswerte, aber kurze Karriere der Fahrstuhlübelkeit lässt sich wohl nur zum Teil damit erklären, dass die frühen Fahrstühle noch besonders ruppig waren. Fahrstuhlführer waren damals ja keineswegs nur einfache Knopfdrücker (Grüße an Miss Kubelik aus Billy Wilders „The Apartment“). Zumindest in den frühen Jahren hing der Bremsvorgang noch erheblich von ihrem geschickten Umgang etwa mit einer Handkurbel ab.

Interessanter wird es allerdings, wenn man diese „Modekrankheit“ mit dem Problem der psychosozialen Anpassung an neue Technologien in Verbindung bringt. Andreas Bernard, unser wissenschaftlicher Gewährsmann für die Geschichte des Fahrstuhls hat dies getan. Er kann sich dabei etwa auf Wolfgang Schivelbusch berufen, der schon die Probleme der frühen Eisenbahner und Bahnfahrer mit der horizontalen Beschleunigung des neuen Verkehrsmittels als psychischen Gewöhnungsprozess interpretiert hatte.

Welche psychosozialen „Anpassungskrankheiten“ beschäftigen uns heute? Werden wir morgen amüsiert zurückblicken auf Phänomene wie „Elektrosmog“, „Burnout“, „Internetsucht“,…? Oder werden wir sie gar vergessen haben wie die Fahrstuhlbeschwerden?

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American Scientist (1890), 63, p. 17.
Zitiert nach:
Andreas Bernard (2006). Die Geschichte des Fahrstuhls. Über einen beweglichen Ort der Moderne. Fischer.
Wolfgang Schivelbusch (1977). Die Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialiserung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. Hanser

Als Heimweh noch tödlich war

 Im aktuellen Spiegel-Titel über „Heimat“ kommt auch das „Heimweh“ vor.
Den Journalisten Freddie Röckenhaus soll es gar so stark überkommen haben, dass er aus dem schönen und mondänen Hamburg wieder zurück in seine Heimatstadt Dortmund zog und von da gar nicht mehr weg will.
Das scheint uns weltläufigen Mobilitätsartisten schon ein ordentliches Heimweh
zu sein.
Doch früher war alles noch viel schlimmer. Früher war Heimweh eine echte Krankheit, die auch tödlich enden konnte.
Und wer hat’s erfunden?
Die Schweizer natürlich. Mitte des 16. Jahrhunderts berichtet ein Schweizer Heerführer von einem Söldner „gestorben von heimwe“ (1).
1678 veröffentlichte der Schweizer Arzt Johann Hofer seine Dissertation „De Nostalgia oder Heimwehe“. Nebenbei hat er damit auch das Kunstwort Nostalgie geprägt, das wir heute eher im zeitlichen Sinne als Sehnsucht nach der Vergangenheit verstehen.
Der Mediziner ging mit seiner Arbeit ein ernsthaftes Problem an: Tatsächlich litten etliche Schweizer Söldner im Ausland so schwer an Heimweh, dass sie, wenn sie nicht desertierten, ernsthaft erkrankten und teils auch starben. Besonders befeuert wurde diese Krankheit durch das Singen und Spielen des heimischen „Kuhreihens“. Die Offiziere sahen sich schließlich gezwungen, diese Musik unter Androhung der Todesstrafe zu verbieten.
Auf der Suche nach der Ursache dieser „Schweizerkrankheit“ verfolgte die Wissenschaft diverse Hypothesen. Eine davon machte die „unreine“ Luft in den engen Schweizer Tälern verantwortlich. (Litt Dortmund nicht auch einmal unter schlechter Luft?). Als man die Heimweh-Krankheit jedoch auch an der See nachwies, musste man neu ansetzen.
Mit Verbrechen aus Heimweh befasste sich 1909 Karl Jaspers. Er unterzieht die Straftaten „entwurzelter“ junger Mädchen, die von den gesellschaftlichen Umwälzungen vom Land in die Städte getrieben worden, waren, einer psychologischen Analyse. (Vielleicht die einzige Dissertation, die als Theaterstück eingerichtet wurde.)
Möglicherweise lindern unsere heutige Lebensweise, unser Selbstverständnis, die Möglichkeiten des physischen wie des virtuellen Reisens Ausbruch und Folgen des Heimwehs. Etwas Heimweh bleibt wohl immer. Und sei es nach einer Heimat, in der wir nie waren (Ernst Bloch).
So angenehm melancholisch kann es natürlich nur aus einer saturierten Position voller Entscheidungsfreiheit enden. Für die vielen Flüchtlinge auf unserem Globus dürfte das Heimweh nach wie vor eine existenzielle Sache sein.

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(1) Zitiert nach Gröf, D. “ Diagnose Heimweh“, S. 90.