„Mein Gehirn wurde nach etlichen Fahrten gestaucht, gezerrt und gepresst. … Mein Magen befand sich auch nicht mehr in seiner ursprünglichen Position. Letztendlich, glaube ich, ist er zwischen Herz und Lungenflügel zum Stehen gekommen. … Die Entfernung zwischen Magen und Mund ist nicht mehr allzu lang.“
Weltrekordversuch im Achterbahnfahren? Belastungstest für Kampfjetpiloten?
Nein, dieser Bericht stammt von einem Mann, der Fahrstuhl gefahren ist. Nur in den achten Stock und zurück. Allerdings sechseinhalb Stunden ohne Unterbrechung.
Kein Wunder. Zumal der Mann hätte gewarnt sein können:
Schon vor über 120 Jahren schrieb der Scientific American, dass das Fahrstuhlfahren nur einen Nachteil habe, es verursache „dizziness to the head and sometimes a nausea to the stomach. The internal organs want to rise in the throat“.
Die Elevator Sickness war definiert und wurde in den Jahren nach 1890 anscheinend häufig diagnostiziert. Und zwar keineswegs bei Extremfahrern wie unserem Gewährsmann von 2011, sondern bei gewöhnlichen Gelegenheitspassagieren, wohl auch schon bei einer einzigen Fahrt.
Die Ursache dieser Übelkeit sah man im abrupten Stopp der Fahrt. Dabei kämen nicht alle Körperteile gleichzeitig zum Stillstand. Beim Abwärtshalt etwa stünden die Füße schon still, während die anderen Körperteile noch herabsausten. Messerscharfe Ableitung der Prävention: Kopf und Schultern gegen die Kabinenwand pressen und so sicherstellen, dass alle Körperregionen gleichzeitig anhalten. Man stelle sich den verbissenen Kampf um die Plätze an der Kabinenwand vor, die verzweifelten Gesichter der Verlierer in der haltlosen Mitte.
Nach wenigen Jahren muss man es hinbekommen haben, ungestützt und einigermaßen gelassen auf und ab zu fahren. Jedenfalls wird nicht mehr darüber berichtet. Und auch im Internationalen Diagnoseverzeichnis der WHO scheint die Elevator Sickness nicht gelistet. Was man dort – zumindest indirekt – finden könnte, ist Elevator Disease. Darunter versteht man Lungenprobleme, die auf die Arbeit in Getreidesilos (grain elevators) zurückzuführen sind.
Die bemerkenswerte, aber kurze Karriere der Fahrstuhlübelkeit lässt sich wohl nur zum Teil damit erklären, dass die frühen Fahrstühle noch besonders ruppig waren. Fahrstuhlführer waren damals ja keineswegs nur einfache Knopfdrücker (Grüße an Miss Kubelik aus Billy Wilders „The Apartment“). Zumindest in den frühen Jahren hing der Bremsvorgang noch erheblich von ihrem geschickten Umgang etwa mit einer Handkurbel ab.
Interessanter wird es allerdings, wenn man diese „Modekrankheit“ mit dem Problem der psychosozialen Anpassung an neue Technologien in Verbindung bringt. Andreas Bernard, unser wissenschaftlicher Gewährsmann für die Geschichte des Fahrstuhls hat dies getan. Er kann sich dabei etwa auf Wolfgang Schivelbusch berufen, der schon die Probleme der frühen Eisenbahner und Bahnfahrer mit der horizontalen Beschleunigung des neuen Verkehrsmittels als psychischen Gewöhnungsprozess interpretiert hatte.
Welche psychosozialen „Anpassungskrankheiten“ beschäftigen uns heute? Werden wir morgen amüsiert zurückblicken auf Phänomene wie „Elektrosmog“, „Burnout“, „Internetsucht“,…? Oder werden wir sie gar vergessen haben wie die Fahrstuhlbeschwerden?
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American Scientist (1890), 63, p. 17.
Zitiert nach:
Andreas Bernard (2006). Die Geschichte des Fahrstuhls. Über einen beweglichen Ort der Moderne. Fischer.
Wolfgang Schivelbusch (1977). Die Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialiserung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. Hanser
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