Ein Anflug von Semantik

Große Königslibelle,Anax imperator

Sehr große Libelle kreist im Garten.
Erster Gedanke: Eine Drohne.
Paranoia oder bloße Einstellung auf das, was kommen wird?

Drohne:
1. Männchen der Honigbiene mit etwas größerem, plumperem Körper, das keinen Stachel besitzt und sich überwiegend von den Arbeitsbienen füttern lässt
2. (abwertend) fauler Nutznießer fremder Arbeit
3. unbemanntes militärisches Aufklärungsflugzeug

Diese Reihenfolge im Duden könnte sich bald umkehren.
Wissenschaftlicher Name der großen Libelle: Anax Imperator.

Quasselstoppe

„Betrachten wir nun die menschliche Stimme als Waffe. Bis zu welchem Grad kann man mit der bloßen Stimme Effekte kopieren, wie sie mit einem Tonbandgerät erzeugt werden können? Lernen mit geschlossenem Mund zu sprechen, sodass die Worte praktisch isoliert im Raum stehen, ist ziemlich einfach“
William Burroughs, Die elektronische Revolution. 1971/1972.

Dauerquassler nerven bekanntlich, nicht nur wenn sie laut sind. Häufig verbinden sie  mit ihrem unterbrechungsfreien Gerede die Vorstellung, ihre „Gesprächspartner“ zu beeinflussen, indem sie ihnen ihre Sicht der Dinge aufdrängen.

Aus kommunikationspsychologischer Sicht ist dies natürlich dumm. Denn wer so kommuniziert, hört nur, was er schon weiß, aber nicht, was der andere weiß oder will. Ein klarer Nachteil, weil man generell nichts dazulernt und konkret nichts über den anderen erfährt und ihn so erst recht nicht beeinflussen kann.
Hinzu kommt die „Reaktanz“ beim Partner, der den unfairen Kommunikanten ablehnen wird.

Vor einigen Jahren haben wir an der Universität Heidelberg ein Experiment zum Thema „Überzeugen“ durchgeführt. Unter anderem zeigte sich, dass viel redende Probanden sehr überzeugt sein konnten, ihr Gegenüber von ihrem Standpunkt überzeugt zu haben. „Dem Fräulein habe ich jetzt mal die Augen geöffnet“. Zu dumm, dass wir auch „das Fräulein“ befragten: „Der Blödmann hat nur Stuss geredet, ich bin kaum zu Wort gekommen. Irgendwann war es mir zu blöd und ich habe es ganz gelassen.“ (Aussagen sinngemäß wiedergegeben)
Musik-Einblendung: Mose Allison „Your mind is on vacation and your mouth is working overtime“.
Sprachlicher Dauerbeschuss geht also nach hinten los.

Japanische Forscher verschärfen diesen Effekt nun mit einem sprachlichem „Selbstschussgerät“. Ihr SpeechJammer ist ein handliches Gerät, das per Mikrofon und Lautsprecher für Stille sorgt. Diese Wortkanone gibt dem Quassler die eigenen Worte mit kurzer Verzögerung zurück. Das Echo soll so irritierend sein, dass Weitersprechen nahezu unmöglich wird.

Dass der Effekt auch unplugged funktioniert, zeigen die „Bösen Mädchen“ bei RTL.

Nach radikaler ist die Lösung, die Philip Garner in den Achtzigern vorschlug: Der Talkman (Bild oben), der das Geschwätz ohne jede Umweltbelastung im Schwätzer selbst kurzschließt. Womit wir wieder bei dem Burroughs-Zitat von oben wären.

Die schriftliche Variante des Talkman:
„Das bisschen, das ich lese, schreibe ich mir selbst“.

Schulmedizin

Vielleicht der größte Kommunikationscoup der Pseudo- oder Placeboheiler. Sie haben das Wort „Schulmedizin“ im allgemeinen Sprachgebrauch etabliert. Auch seriöse Medien, zuletzt etwa die Süddeutsche Zeitung, verwenden den abschätzigen Begriff ohne ihn zu hinterfragen. Es ist ihnen sogar gelungen, dass viele der Geschmähten selbst – seriöse Mediziner – das Etikett auf sich selbst anwenden. Welche PR-Agentur würde sich eine solche Leistung zutrauen?

Woran denkt man, wenn man „Schulmedizin“ hört? An Schule, starres, vertrocknetes, lebensfernes Büffelwissen? An dessen menschenfeindliche Auswüchse: „Apparatemedizin“, „Pharmakeule“? Nicht unwahrscheinlich. Der Gegenpol? „Erfahrungsmedizin“, „Alternativmedizin“, „Komplementärmedizin“ etc.

Laut Wikipedia prägte der homöopathische Arzt Franz Fischer den Ausdruck „Schulmedizin“ 1876 in einem Brief an die „Homöopathischen Monatsblätter“ – auch schon gezielt abwertend. Fischer bezog sich dabei wohl auf eine Formulierung des Homöopathie-Begründers Samuel Hahnemann von 1832. Mit „Mediziner der Schule“ nahm dieser die sogenannte allopathische Medizin aufs Korn, nicht etwa die wissenschaftlich und staatlich legitimierte Medizin, die sich in Deutschland erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierte.  Im Nationalsozialismus wurde der Begriff „Schulmedizin“ benutzt, um eine „gesunde“ „Volksmedizin“ oder eine „Neue Deutsche Heilkunde“ als Gegenstück zur „verjudeten Schulmedizin“ zu propagieren. Details finden sich in einer Dissertation von 1974. Eine Analyse der jüngsten Begriffsgeschichte wäre ebenso interessant wie eine empirische Untersuchung der oben als wahrscheinlich angenommenen Konnotationen.

Was soll man denn stattdessen sagen? Vielleicht einfach nur „Medizin“. Das würde den nicht seriösen Ansätzen die angemaßte medizinische Legitimation nehmen.   Oder Hochschulmedizin, wissenschaftliche Medizin, wissenschaftsbasierte Medizin. Aber muss die Mathematik sich „wissenschaftliche Mathematik“ nennen? Etwa um sich von der „Erfahrungsmathematik“ der Peter-Zwegat-Kundschaft abzugrenzen? Muss der Ingenieur sich Schwerkraft-Ingenieur nennen, nur weil er nicht mit Levitation arbeitet?

Der Begriff „Erfahrungsmedizin“ ist übrigens auch ein Etikettenschwindel. Es ist ja gerade die seriöse Medizin, die auf Erfahrung beruht. Auf wissenschaftlich überprüfter und weiter überprüfbarer Erfahrung. Und nicht auf der trügerischen Erfahrung, dass der Schamane heilt, weil er sich eine Woche lang zu dem Grippe-Kranken legt und die Krankheit übernimmt. Auch nicht auf der Erfahrung, dass Männer, die getrockneten Tigerpenis zu sich genommen haben, Sex haben können. Auch nicht auf fortwährender dogmatischer Leugnung von Empirie und Naturgesetzen.

Wer heilt hat recht. Dumm ist nur, dass es gar nicht so einfach ist, eine Heilung auf eine spezifische Maßnahme zurückzuführen. Klug ist, wer wenigstens darauf achtet, die eine oder andere sprachliche „Infektion“ nicht noch weiter zu verbreiten.

 

Scheinbar hochauflösend

„Bei ‚Markus Lanz‘ sagt das Ehepaar Benecke, was scheinbar in Menschen vor geht, die morden, foltern oder andere Menschen missbrauchen.“
ZDF-Ankündigung für den 23.11.2011
Wozu lädt man Experten ein, wenn die doch nur sagen können, was scheinbar (also in Wahrheit eben nicht) in solchen Menschen vorgeht?
Was geht in gewerblichen Autoren vor, die „scheinbar“ und „anscheinend“ nicht auseinander halten können?
Für alle, die den Unterschied nochmals nachlesen wollen:
http://de.wiktionary.org/wiki/scheinbar
Vielleicht meinte der Autor auch „wahrscheinlich“ oder brauchte nur ein irgendein Füllwort. Aber  Hochmut ist billig, und eigener Fall soll auch vorkommen.

Verstehen wir Wörter einmal einfach nur als Klangbilder oder Tintenkleckse, die im Kopf der Rezipienten bestimmte Vorstellungen auslösen.  Dann ist es letztlich eine Sache mehr oder minder willkürlicher Übereinkunft, welche Buchstabenkombination welche Vorstellungen auslöst(1).
Wenn also Sprecher wie Hörer mit dem Wort „scheinbar“ die Bedeutung von „anscheinend“ verbinden, wie es bei vielen Alltagssprechern anscheinend der Fall ist, wird beim Hörer wohl die  gewünschte Vorstellung hervorgerufen(2). Pragmatisch zunächst prima. Was immer der Duden sagen mag.
Wenn das Wort „anscheinend“ allerdings gar nicht im sprachlichen Repertoire ist, fehlt eine wesentliche Ausdrucksmöglichkeit für diese Bedeutungsmöglichkeit(3).
Man könnte also sagen, ZDF HD sendet Bilder in hoher Auflösung, aber Text in geringer Auflösung.
Low-Definition-Text also.

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(1) Von bestimmten Nahelegungen einmal abgesehen. So eignet sich etwa „Wau“ als Bezeichnung für Hundebellen viel besser als etwa „Infinitesimalrechnungsprüferin“. Und überhaupt: Warum ist „scheinbar“ nicht das Gegenteil von „unscheinbar“?
(2) Hörer mit den differenzierten standardsprachlichen Bedeutungen im Kopf wird allerdings die ärgerliche Mühe abverlangt, sich zu überlegen, was nun wirklich gemeint sein könnte, und ob es dem Schreiber auch sonst an kognitiver Differenzierung mangelt. Den anderen wird nicht die Chance gegeben, etwas differenzierter zu werden.
(3) Oder sie muss durch umständliche Formulierungen ersetzt werden.